In diesem Beitrag möchte ich die fünf verbreitetsten Spielanweisungen aufzeigen, mit denen man garantiert nicht lernt wie man entspannt Klavier spielt, wie man schnell spielt oder wie musikalisch Klavier spielt. Denn diese drei Aspekte hängen zusammen und bedingen einander.
Vertraut man unhinterfragt diesen Spielanweisungen verlernt man das Gefühl für eine natürliche, ökonomische Spielweise und entwickelt langfristig eine ungesunde Klaviertechnik, die nicht nur die Lernfortschritte blockiert, sondern schlimmstenfalls zu ernsthaften Verletzungen führt.
In den meisten Fällen basieren diese Spielanweisungen auf wissenschaftlich nicht bestätigten oder sogar widerlegten Annahmen, die die Klavierlehrer unhinterfragt von ihrem eigenen Lehrer übernommen haben und die sie leider allzu oft für ihren Erfolg beim Klavierspielen rückwirkend verantwortlich machen.
Schauen wir sie uns an:
1. Übe Etüden, um bestimmte Spieltechniken zu erlernen
Warum du es lieber nicht tun solltest…
Der Grund, warum in den letzten hundert Jahren so viele Klavierlehrer von der auf Etüden und Fingerübungen basierten Klaviertechnik überzeugt sind, liegt nicht in ihrem fundierten Wissen über neurophysiologische Funktionsweisen, Bewegungsökonomie und ihren Kenntnissen der Biomechanik, sondern einzig in ihrem mechanistisch geprägten Welt- und Menschenbild.
Insbesondere im 19. Jahrhundert wurde die mechanistische Weltanschauung prägend für alle Wissenschaftsbereiche. Man begriff den Menschen als Maschine, die aus einzelnen Teilen zusammengesetzt ist, die man getrennt voneinander „trainieren” kann.
Was da alles an gymnastischen Übungen absolviert wird, an extremen Fingerhub und anderen akrobatischen Verrenkungen gepredigt und praktiziert wird, was da an paramilitärischem Drill bis heute noch stattfindet, um den Fingern das Laufen beizubringen – es ist kaum zu glauben! (…)
Meistens besteht die Neigung, spezielle und komplizierte Tricks zu zeigen und zu fordern, statt eine solide handwerkliche Basis zu legen.1 Rudolf Kratzert, Klavierpädagoge
Dahinter steht die Grundannahme, dass unser Körper nicht selbst weiß, wie er bestimmte Bewegungen am effizientesten ausführt und man ihm von Außen mittels geeigneter Übungen nachhelfen müsse.
Es ist absurd anzunehmen, der Mensch sei das einzige Lebewesen auf Erden, das so imperfekt geschaffen ist, dass es sich zeitlebens um eine gute Koordination seiner Funktionen bemühen müsste.
Viel wahrscheinlicher ist es, dass wir (…) oft eine schlechte Wahl der Mittel treffen. (…) Der Mensch ist unendlich lernfähig, aber eben nach jeder Seite hin – also auch zum Schlechten.
Darum zählt beim Reifungsprozess eines Menschen nicht die Quantität von Erfahrungen, sondern deren Qualität.2 Rudolf Kratzert, Klavierpädagoge
Um nun den Fingern all die verschiedenen Positionen und Techniken beizubringen, die sie von Natur aus nicht beherrschen, haben Pädagogen wie Hanon ganze Sammlungen an Etüden verfasst — eine, für jede Technik — mit dem Ziel, so alle Techniken im Voraus zu erlernen, um für alles gewappnet zu sein, was in der Klavierliteratur an technischen Schwierigkeiten auf einen lauern könnte.
Diese Sichtweise ist sehr statisch — man hat schwierige Techniken und Etüden, die bestimmte Bewegungen erfordern, die den Fingern einverleibt werden sollen, um sie abrufen zu können wenn Stück X oder Y sie erfordert.
Manche halten diese Methode tatsächlich für „ganzheitlich” und versuchen Parallelen zur östlichen Philosophie zu ziehen. Die Theorie steht aber auf mehr als wackeligen Beinen, denn das Gegenteil ist der Fall.
Das ganzheitliche Klavierspiel trägt dem Umstand Rechnung, dass wir keine isolierten Handlungen ausführen können.
Wenn wir z.B. unseren Arm bewegen, dann gebrauchen wir die verschiedenen psycho-physischen Mechanismen des ganzen Körpers, dessen Zusammenwirken erst die Bewegung eines bestimmten Körperteils hervorruft.
Wenn wir z.B. sprechen, dann kommt der Ausdruck durch Stimme, Zungenschlag, Kieferbewegung, Lunge (Atmung), usw. zustande. Wir sprechen mit einem besonderenen Timbre, einer besonderen Diktion, Resonanz und Sprechmelodie, wir lispeln oder stottern, usw. Bestimmte Faktoren werden durch unsere Stimmung und unser Selbstbild beeinflusst.
Wird das Ziel erreicht?
Manche glauben ja. Doch die Wahrheit ist, dass sie trotz und nicht wegen der Etüden so gut spielen. Mit „kräftigen” Fingern ist es biomechanisch nämlich gar nicht möglich schnell oder schön Klavier zu spielen.
Mehr dazu hier: Spieltechnik — Wege zu einer natürlichen Spielweise
Abgesehen davon sollte auch die psychische Komponente nicht übersehen werden. Wenn man Schüler permanent, noch bevor sie die ersten Noten eines Stückes gespielt haben, darauf hinweist, wie „schwer” es ist und dass sie „extra viel üben” müssen, um es zu lernen, löst das eine psychische und physische Grundspannung aus, die sich (auch im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung) ganz sicher negativ auf das Spielen auswirken wird.
2. Spiele täglich Hanon-Übungen, um „in Form” zu bleiben
Warum man es lieber nicht tun sollte…
Da die Übungen Hanons im Grunde genommen Etüden sind, gilt das oben gesagte entsprechend auch für sie.
Doch selbst wenn seine Übungen sämtliche Spieltechniken abdecken würden:
Eines der primären Ziele Hanons ist in mechanistischer Tradition die Kräftigung der Muskeln. Mit kräftigen Fingern soll der Tastenwiderstand leichter überwunden werden. Allerdings ist auch das ein Mythos.
Was passiert, wenn man erst mit übermäßig hoher Kraftanstrengung Etüden spielt, ist, dass die Muskeln dadurch kurzfristig eine höhere Grundspannung haben (bzw. einen höheren Muskeltonus) und das Spielen des Stückes sich danach müheloser anfühlt.
Das klingt doch ganz gut?
Jein.
Was passiert, wenn das Stück sehr schnelle Passagen enthält oder Triller, Tremoli, schnelle Akkordsprünge?
Man wird immer fester. Und keine Etüde und Fingerübung der Welt, auch nicht acht Stunden üben am Tag wird daran etwas ändern.
Denn die Muskelspannung lässt sich nicht unendlich steigern und ein hoher Muskeltonus führt zwangsläufig zu einer verringerten Beweglichkeit.
Die Kraftaufbau-Methode hilft also nur bis zu einem bestimmten Grad — ab einem bestimmten Punkt merkt man, dass jedes weitere Quäntchen Muskelspannung einen behindert — man wird immer fester und immer langsamer. Das ist der Punkt, an dem viele Klavierspieler verzweifeln.
Was kann man da tun?
Es gibt tatsächlich eine ziemlich einfache Lösung für dieses Problem. Es ist so einfach, dass viele es gar nicht erst ausprobieren wollen, aus Angst, dass sie sich jahrelange unerträgliche Übesitzungen hätten sparen können.
Doch es gilt nach vorne zu schauen. Wenn es jetzt eine Lösung gibt, dann sollte man sie jetzt nutzen, um in 5 bis 10 Jahren nicht am selben Punkt zu stehen (immer noch). 😉
Hast du schon mal erstklassige Eiskunstläufer, Balletttänzer oder Surfer beobachtet? Oder Badmintonspieler oder Mountainbiker?
Natürlich haben sie vorher die physikalischen Gegebenheiten erfasst und alles so genau wie möglich berrechnet, um das Risiko zu minimieren. Insbesondere bei der Wahl des Fahrers — sie haben sich den „Besten” geholt. Ich wusste sofort, wieso er der Beste werden konnte.
In der Zeitlupenaufnahme sah man sehr schön, was sonst unserem Blick verborgen bleibt: wie er mitten in der Fahrt seinen Körper loslässt bis auf die lockere Verbindung seiner Handgelenke mit dem Lenkrad.
Er passt sich während des „Fluges” ständig dem Motorrad an und gleicht die Bewegungsrichtung und Impulse aus.
Sein Körper ist absolut geschmeidig und die Glieder „lose”. Der Kopf zeigt in die Bewegungsrichtung nach vorne ohne dass er seinen Hals starr festhalten würde. Der Rücken ist nicht gekrümmt, sondern lang und gestreckt, man sieht, wie die Arme mit ihm Verbunden sind.
Offensichtlich nimmt der Fahrer seinen Körper als Ganzes wahr und sieht sich gleichzeitig in Relation zu seiner Umgebung. Wäre das nicht der Fall, wäre er nur Kopf; würde er sich nur auf seine Beinhaltung konzentrieren, würde er der Umwelt und den Impulsen des Motorrads nicht mehr gewahr sein und könnte diesen Stunt unmöglich ausführen.
Dasselbe Phänomen kann man auch bei anderen Künstlern beobachten, bei einigen immer, bei anderen während der Ausübung haarsträubend komplexer und komplizierter Bewegungsvorgänge.
Von Außen betrachtet wirken ihre Bewegungen sehr elegant und harmonisch und vor allem überhaupt nicht schwer, sondern geradezu lächerlich einfach (bis man es selbst versucht).
Wie machen sie das?
Indem sie einem einfachen Prinzip folgen: sie nutzen die Schwerkraft optimal aus. Sie achten während der Ausführung nicht auf die rechte Hand oder linken Fuß und sie strengen sich auch nicht besonders an und machen vorher extra viele Kraftübungen.
Ganz im Gegenteil. Es geht um Balance, ums das Gleichgewicht.
Statt Kraftübungen machen sie vielleicht ein paar lockere Aufwärmübungen.
Während des Auftritts lassen los und pendeln wie ein Pendel um den Schwerpunkt herum, nutzen die Impulse und Fliehkräfte optimal aus. Daraus ergibt sich oft unbeabsichtigt ein effizienter Körpergebrauch unter Aufwand von so viel Kraft wie gerade nötig und so wenig wie möglich, damit dem natürlichen Prinzip der kleinsten Wirkung folgend.
Das funktioniert allerdings nur, wenn man seinen Körper währenddessen als Ganzes fühlt, wenn man „geerdet” ist. Nur so ist kontinuierliches Ausbalancieren möglich.
Ist das Becken steif, hält man den Kopf fest, den Atem an oder krampft sich mit den Füßen am Boden fest, kann man nicht ständig die nötigen minimalen Anpassungen vornehmen. Wie wichtig diese jedoch sind, merkt man als Musiker vor allem beim Geige spielen.
Beispiel: Ju Jutsu
Dieses Prinzip der kleinsten Wirkung (auch Hamiltonsches Prinzip genannt) ist beim Jiu Jitsu Programm. Diese Kampfkunst steht für die Technik des Greifens, Umschlingens und Niederwerfens. Es ist eine sehr effektive Methode der Selbstverteidigung ohne Waffen beruhend auf dem Grundsatz, den Gegner dadurch zu fällen, dass man ihm nachgibt und sich dessen eigene Kraft zunutze macht.
Darum gilt es immer präsent zu sein, geerdet (Bodenkontakt beider Füße) und die Knie leicht zu beugen, um geschmeidig und nachgiebig zu sein.
Würde man sich hingegen fest machen und die Muskeln anspannen, würde man bei einem Angriff umkippen wie ein Stuhl und müsste doppelt so viel Kraft aufwenden wie nötig, um den Gegner zu treffen. Hingegen halbiert sich die Kraft, wenn man die des Angreifers aufnimmt und zurückschleudert.
Gleichzeitig gilt — je mehr Kraft man selbst aufwendet, umso wahrscheinlicher kommt man selbst zu Schaden, weil man durch zu viel Schwung nicht mehr rechtzeitig ausbalancieren kann. Es ist dasselbe, wie sich gegen eine Tür mit einem schwachen Riegel zu werfen: sie fliegt auf und man stürzt zu Boden.
Je mehr du dich bemühst, je stärker du strampelst, je mehr Kraft du reinsteckst, umso behender erwischt er dich.3 Alan Watts
Für das Klavierspielen gilt dasselbe: Je mehr Kraft man reinsteckt, je mehr man sich anstrengt — umso langsamer kommt man voran. Stattdessen gilt es, sich das Tastengewicht zunutze zu machen.
Mehr dazu hier: Das Spiel mit flachen Fingern — Pro und Contra
Die Voraussetzung dafür ist wiederum ein gutes Gleichgewicht, dessen Voraussetzung wiederum eine gute Verbindung zum Rücken und zu den Sitzhöckern ist, die beim Sitzen unser Zentrum bilden.
Machst du diese Fehler beim Sitzen am Klavier? (+Checkliste)
3. Spiele laut und deutlich, um eine akkurate Spielweise auszuarbeiten
Warum man es nur selten tun sollte…
Natürlich ist es ab und an sinnvoll, laut und deutlich zu spielen, z.B. wenn eine bestimmte Stelle im Stück es erfordert; eine laute Stelle sollte selbstverständlich bei einem Vorspiel auch laut gespielt werden.
Aus dem „laut und deutlich spielen” wird jedoch meiner Erfahrung nach allzu oft eine regelrechte Manie: In der Praxis sieht es nämlich häufig so aus, dass das ganze Stück erst „laut und deutlich” vom Schüler geübt werden soll und erst später die Dynamik (z.B. leise Stellen) „hinzugefügt” werden soll.
Das gewohnheitsmäßig laute Spielen führt in den meisten Fällen dazu, dass der Schüler gar nicht mehr in die Tasten hineinspürt und unkontrolliert so laut wie möglich spielt (bzw. draufhämmert), weil er ja „laut” spielen soll. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen geschieht das auch noch mit einem steifen Handgelenk, das in einem frühen Stadium des Unterrichts noch gar nicht gelernt hat „loszulassen”.
Schließlich wird das ohnehin schon feste Handgelenk das permanente Laut-Spielen über die Jahre noch weiter verhärtet und zu einer gedankenlosen Gewohnheit mit fatalen Folgen.
Das leise und lockere Spielen nah an den Tasten wird demgegenüber fatalerweise unterschätzt bzw. findet im Unterricht bei vielen Lehrern gar nicht erst statt.
Selbst beim leisen Spiel versucht der in diesem Fall schlecht unterrichtete Schüler das Handgelenk noch weiter zu verfestigen, um die Töne nicht aus Versehen wieder rauszuhämmern, wie es der Gewohnheit entsprechen würde. Das geht meist überhaupt nicht gut — vielmehr ist der Klang durch das feste Handgelenk gepresst und sehr uneben.
Unkundige Lehrer empfehlen das laute Spiel meist, wenn sie merken, dass die Töne dynamisch unkontrolliert sind. Sie führen das darauf zurück, dass einige Finger eben „zu schwach” seien, um die Tasten mit ebensoviel Kraft wie die anderen Finger runterzudrücken. Doch das ist eine Fehlinterpretation.
Es geht nämlich erstens nicht darum die Tasten einzeln Finger für Finger „runterzudrücken” und zweitens ist die „Kräftigkeit” der Muskeln für das Klavierspiel irrelevant.
Vielmehr gilt es, so viel Armgewicht wie für den benötigten dynamische Grand nötig ist von einem Finger zum nächsten weiterzugeben.
Man hält also nicht das Handgelenk fest und drückt einen Finger nach dem anderen runter, sondern legt den Arm auf die Tastatur, lässt alle Finger bis auf einen los liegen, entzieht dann dem Arm so viel Schwere wie nötig, um den gewünschten Klang zu erzielen und passt mit dem Fingerwechsel jeweils den Schwerpunkt neu an. (Keine Sorge, auch dazu sind How To Videos geplant!)
Der Schüler also, der den Anweisungen seines Lehrers gewissenhaft folgt, wird mit der Laut-üben-Methode kein gleichmäßiges Klangbild und schon gar kein entspanntes Spielen erreichen.
Da lautes Spielen meist mittels besonders hohem Kraftaufwand geschieht, gilt das unter Punkt 2 Gesagte verstärkt noch einmal hier. Der Schüler wird sich bei so einem Unterricht mit den Jahren und schwerer werdenden Stücken immer hilfloser fühlen — wenn er überhuapt Fortschritte macht und je über ein bestimmtes Anfänger-Level hinaus kommt.
Zuletzt fühlt man sich auch bei Vorspielen und Konzerten besonders unsicher, wenn man immer nur besonders „laut und deutlich” geübt hat, weil die dann auftretende Nervosität den Grund-Muskeltonus noch weiter erhöht und das Spielen dadurch insbesondere mit den gefürchteten kalten Fingern noch anstrengender und unkontrollierter, ja geradezu zum Glückspiel, wird.
Das ist bei einer nicht auf Muskelkraft basierten Klaviertechnik übrigens nicht der Fall. Die Beweglichkeit der Finger ergibt sich dann nicht aus dem Hochheben der Finger (was man tut, wenn man beim Üben zu Hause besonders „deutlich” spielen soll), sondern aus der Fähigkeit kleinste Muskelanspannungen zu lokalisieren und loszulassen, sodass die kleinen Bewegungen nicht blockiert werden.
Sich bewegende Finger an einem lockeren Arm sind eigentlich das natürlichste der Welt. Niemand käme z.B. auf die Idee, einen Stift permanent mit größter Kraft festzuhalten oder so fest wie möglich beim Schreiben zu drücken. Selbiges gilt auch für das Klavierspiel.
Doch die durch unfundierte Spielanweisungen entstandene Festigkeit beim Klavierspielen hat die sehr bedenkliche Nebeneigenschaft, das Gefühl für natürliche, lockere Bewegungen vollständig zu verdrängen.
Spätestens im Jugendalter (falls man es als Schüler überhaupt so lange durchhält), kann eine „harte Spielweise” zu ernsthaften Schäden führen — von Muskelverhärtungen bis hin zur chronischen Sehnenscheidenentzündung. Die heutzutage an jeder größeren Musikhochschule vorhandene Musikermedizin-Abteilung weiß ein Lied davon zu singen.
4. Hebe die Finger „schön hoch”, damit sie „kräftiger” werden
Warum man es lieber nicht tun sollte…
Dieser Punkt ist eng verknüpft mit Punkt 3. Hinter der Aufforderung, die Finger „weit hochzuheben” steht die Annahme, dass man dadurch irgendeine Art von „Stärkung” oder eine „Unabhängigkeit der Finger” erreichen könne.
Eine „muskuläre” Stärkung der Finger ist aber nur in einem sehr begrenzten Maß möglich, eine „Unabhängigkeit” der Finger physiologisch gesehen überhaupt nicht.
Die Finger sind von Natur aus verschieden. Es ist völlig normal, dass sich der 3.,4. und 5. Finger schlechter nach oben, also von den Tasten weg heben lassen. Auch professionelle Pianisten können den Ringfinger nicht höher heben als ein Nicht-Pianist.
In Wahrheit müssen die Finger beim Klavierspiel nur minimal angehoben werden und dabei niemals über die Höhe des Handrückens hinaus. Allein dieses simple „Erkenntnis” allein sorgt bei vielen Schülern für Erleichterung!
Darüber hinaus muss man für die Aufwärtsbewegung der Finger (z.B. in dem Moment, in dem man eine Taste spielt und sie wieder loslassen will) nur zu einem kleinen Teil Muskelkraft benutzen (die man kaum noch als wirkliche „Kraft” wahrnimmt) und zum größeren Teil das „Aufgewicht” der Taste – d.h. die Kraft, die die Klaviertaste nach dem Anschlag wieder in ihre Ursprungsposition bringt.
Ein zu starkes Heben der Finger ist nicht nur unnötig, sondern sogar gefährlich (Sehnenscheidenentzündungen, Muskelverhärtungen etc…).
5. Lerne Noten, um nach Noten spielen zu können
Kann man machen, muss man aber nicht
Was sind Noten? Noten sind in Schriftform festgehaltene Musik. Sie wurde vor Jahrhunderten entwickelt, um sich Musik merken und weitergeben zu können.
Das Ziel eines guten Musikers ist jedoch auch heute noch das auswendige Spiel. Nur so kann man die Musik ungestört durch sich durchfließen lassen und aus dem Moment heraus spielen.
Auf welcher Basis man das Stück auswendig lernt, ist im Grunde zweitrangig: Ob man es nach Gehör nachspielt, von Noten lernt oder mittels Video-Tutorials, wie wir sie auf PianoTube anbieten — das Ergebnis wird dasselbe bleiben: Man lernt, auswendig zu spielen.
Deswegen: Natürlich kann und sollte jedermann, der den Wunsch verspürt, Noten zu lernen, das auch tun. Dafür haben wir die Musiktheorie-Kurse schließlich auch erstellt 😉 ) Aber:
Denn nach Noten spielen zu lernen geht eindeutig langsamer als mittels direkter Nachahmung oder mithilfe eines Video-Tutorials.
Man kann beispielsweise den Anfang von „Für Elise” bei vorhandener Motivation noch im ersten Jahr oder sogar in den ersten Monaten mithilfe eines Video-Tutorials (einer Videoanleitung) lernen.
Bis man „Für Elise” allein auf Basis der Noten aus spielen lernen könnte, würden hingegen mit Sicherheit 2 Jahre vergehen.
Fazit
Letztendlich geht es bei allen technischen Schwierigkeiten des Klavierspiels nicht darum, die Finger in einem optimalen Bereitschaftszustand zu „halten” (schon die Wortwahl verdeutlicht hier ein mechanistisches Weltbild). Sondern vielmehr darum, unter allen Umständen die Geschmeidigkeit der Bewegungen des gesamten Körpers (Füße, Rücken, Arme, Hände, Finger) zu gewährleisten, indem wir Anspannungen bewusst wahrzunehmen und verspannte Stellen „loszulassen” lernen.
Letztere Herangehensweise ist ganzheitlicher orientiert, berücksichtig die Erkenntnisse der Biomechanik und der Neurophysiologie und ermöglicht es uns jedes beliebige Stück, jede beliebige Tonleiter auch ohne Aufwärmen und ohne „Fingertraining” spielen zu können (auch mit kalten Fingern!).
Das kann man auf zwei Wegen erreichen:
- Über den Umweg von hunderten von Etüden, bis man per Zufall lernt loszulassen.
- Auf direktem Wege durch Konzentration auf den Prozess (Präsenz).
Die erste Methode ist vertane Lebenszeit.
Die Bewegungen werden hierbei durch jahrelange Überforderung in ihrer Festigkeit „gebrochen”. Die Muskeln müssen sich ab einem gewissen Punkt zwangsläufig entspannen, um sich nicht zu überlasten. Das tun sie aber nicht bei jedem.
Unzählige Klavierspieler haben sich durch stures, zielfixiertes Etüdenspielen Verletzungen zugezogen. Schnelle Läufe, Triller oder Tonrepetitionen können sie dann jedoch noch immer nicht spielen.
Im Gegensatz zur ersten, üblichen Methode, kämpft man bei der zweiten nicht so lange gegen den Widerstand an, bis die Glieder loslassen müssen.
Stattdessen achtet man von der ersten Note an von vornherein darauf, sie mit so wenig Kraftaufwand wie möglich und nur so viel wie nötig zu spielen.
Es versteht sich von selbst, dass diese Art des Übens zunächst nur bei sehr langsamen Tempo möglich ist – insbesondere, wenn man zuvor jahrelang „fest” gespielt hat und die neuromuskulären Muster im Gehirn neu prägen muss.
Jetzt bist du gefragt!
Wie hast du Klavier spielen gelernt? Nach Noten, durch Nachspielen oder sogar nach Gehör?
Waren deine Erfahrungen mit Etüden oder Fingerübungen eher positiv oder negativ?
Wie ist dein Spielgefühl — ganz gut, ok oder verbesserungswürdig?
Ich freue mich auf deinen Kommentar! 🙂
Wir sind dir für jede Unterstützung dankbar!
Quellen
Kratzert, Rudolf: Technik des Klavierspiels. Ein Handbuch für Pianisten, Kassel 2002.
de Alcantara, Pedro: Alexander-Technik für Musiker, Kassel 2005.
Foto: © Paul-Georg Meister / PIXELIO.
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